schimi (Gast) - 28. Okt, 19:02

In erster Linie ist ein Bauernopfer aber eben auch "wenn etwas (vorgeblich) Nachrangiges geopfert wird, um etwas Höherwertiges zu erhalten". Ich pflichte bei, dass es auch mein Eindruck ist, dass es der Strassenbahnfahrer vielleicht nicht so gemeint hat wie man befürchten könnte. Er wirkt meiner Meinung nach in der anschließenden Diskussion sogar sympathischer als der aufgebrachte, ältere Herr. Nichts desto trotz, wenn wir schon beim persönlichen Bauchgefühl sind: Als ich das Video zum ersten Mal gesehen hab, war es etwas anderes was bei mir wirklich ein ungutes Gefühl in der Magengrube erzeugt hat, nämlich die Reaktion der Fahrgäste. Ich stelle daher einfach mal folgende Frage in den Raum, die ich mir auch selbst gestellt habe: Angenommen, ich wäre selbst in dieser BIM gesessen: Hätte ich mich (meinem Bauchgefühl nach) in dieser Situation wohler gefühlt wenn ausnahmslos alle vehement protestiert hätten, den Zug verlassen hätten, etc. und die Party leider zuende gewesen wäre, oder wenn ausnahmslos alle mit Sätzen wie (ich zitiere hier einzelne Fahrgäste in Bezug auf den älteren Herrn) "Sie haben keine Freude am Leben, lassen sie uns doch einfach mal Spass haben." und "Machts nett immer so einen Stress, lass ma das einfach sein, okay?" reagiert hätten?
Ich für meinen Teil, entscheide mich für die erste Situation, weil ich glaube dass genau solche Sätze wie der zuletzt zitierte, das "österreichische Problem" mit dem Umgang mit dieser Thematik recht gut widerspiegeln: Es erschaudert mich, dass immer noch Dinge verharmlost und kleingeredet werden, über die eigentlich im ganzen Land Konsens herrschen sollte, meiner Meinung nach eben ohne dieses "aber geh.." "war doch nicht so gmeint..." usw.
Natürlich, das Problem ist mit Sicherheit nicht der Strassenbahnfahrer, sondern ganz klar solche Fälle wie die Wahl Martin Grafs. Aber ist es nicht so, dass genau diese "alltäglichen", kleinen Situationen erst die Möglichkeit schaffen, dass dann auch Abgeordnete im Parlament so stimmen können, wie sie heute gestimmt haben?
Ich frage mich ernsthaft: Was hätte in dieser Geschichte anders laufen sollen, damit Österreich in Bezug auf diese Frage zu einer "besseren Welt" wird? Wem ist in dieser Situation also die Schuld zu geben? Einem Strassenbahnfahrer, der VIELLEICHT einen blöden, unbedachten Scherz machen wollte? Einem älteren Herrn, der sich darüber VIELLEICHT über die Maßen empört, aber auf Grund seines Alters ebenso VIELLEICHT ein wenig mehr emotional involviert ist als beispielsweise ich es bin? Einem Blogger, der die Sache mehr oder weniger zufällig aufzeichnet, und dies VIELLEICHT ohne die Folgen für den Strassenbahnfahrer abschätzen zu können ins Netz stellt? Einem Journalisten, der die Geschichte nicht als zu unwichtig unter den Tisch fallen lässt, sondern darüber berichtet, und sie VIELLEICHT zu subjektiv beurteilt? Einem öffentlichen Rundfunk, der dies ebenso tut, und VIELLEICHT zuwenig dazu kommentiert, nicht jedes Wenn und Aber abwägt? Den Wiener Linien, weil sie nicht (ui, da springt mir gerade der aktuelle Bakary J. Artikel ins Auge...) hin und her abwägen und sich schützend vor den Strassenbahnfahrer stellen, sondern ihn VIELLEICHT vorschnell entlassen? Oder sind es wir (dich maschi, und mich ganz besonders mit eingeschlossen), die ständig über diese Fragen diskutieren, obwohl es hier nichts, aber auch absolut garnichts zu diskutieren gibt, weil die Fahrgäste dieser Strassenbahn in dieser "besseren Welt" eigentlich mit einer geschlossenen Stimme reagieren hätten sollen? Ich persönlich glaube, dieses GEFÜHLTE und KLARE Bekenntnis und "dagegen auftreten" MUSS ganz unten beginnen, auf der Strasse, im Netz, in den Redaktionen, und nicht ganz oben im Parlament. Dann - und vermutlich eben erst dann - kann auch ein tatsächlich als Scherz gemeinter Ausrutscher eines kleinen Strassenbahnfahrers wieder als solcher verstanden werden.
Eine letzte Anmerkung sei mir noch erlaubt, um nicht als "Spassverderber" verstanden zu werden: Ich persönlich bin ein großer Fan, sowohl von "Das Leben ist schön" als auch von der "deutschen Kochshow", und halte daher prinzipiell auch diesen Umgang mit der Vergangenheit für den Richtigen. Der Unterschied ist nur, dass in diesen Fällen doch im Grunde jeder genau weiss wie es gemeint ist. Manchmal "wollen" es manche vielleicht nicht wissen, aber so schwer scheint es dann doch nicht zu sein: Oder hat irgendwer schonmal Nazis in einer solchen Vorstellung sitzen sehen? Oder umgekehrt wirklich geglaubt (geglaubt, nicht behauptet zu glauben!) dass Lieder wie die Udo Jürgens Umdichtung nur ein Spass sind? Scheinbar fällt es also beiden Seiten nicht allzuschwer hier zu unterscheiden, wenn man nur will...

maschi - 29. Okt, 08:58

Die ganze Problematik dieser Geschichte liegt ja eben genau darin, dass es sowohl für die Anwesenden als auch für die Betrachter nicht 100% eindeutig war, wie es gemeint war. Daher kann man aber auch aus der Reaktion der Fahrgäste letztlich keine Rückschlüsse ziehen, kann sie ihnen auch nicht zum Vorwurf machen: der eine hat es als klare Deutschtümelei-Verarsche empfunden und keinen Unterschied zu Grissemann/Stermann entdecken können, der andere hat gedacht, hier sitzt unfassbarerweise ein kleiner Neonazi am Steuer...

Selbst wenn hier also unter den Fahrgästen wirklich jemand deshalb gejohlt hat, weil endlich wieder jemand offen "Sieg Heil" ruft: wir werden es aus DIESER Situation nicht rückschliessen können, dass dem so war oder gewesen sein könnte.

Aus demselben Grund kann man daher glaub ich auch nicht so einfach sagen, was besser hätte laufen sollen, damit Österreich in dieser Situation ein Stück einer "besseren Welt" gewesen wäre. Die Siutation war zu vielschichtig, als dass man eindeutige Schlüsse aus ihr ziehen könnte (keine ganz normale Strassenbahnfahrt, Alkohol, ein Strassenbahner der sich Aufmerksamkeit und vermutlich auch eine Reduktion des Geräuschpegels verschaffen will, extrem unterschiedliches "Publikum")

Was ich daher letztlich nicht so gut finde: zu glauben, sich bei einem Bild mit vielen Grautönen auf Schwarz oder Weiss festlegen zu müssen. Und was daher aber am Ende für mich dann doch recht "eindeutig" überbleibt, ist ein wichtiger, allgemein bekannter Rechtsgrundsatz aus dem Strafrecht: In dubio pro reo. Der Mann tut mir leid: die Diskussion wird morgen zu Ende sein, alle werden sich zu Ende empört oder zu Ende verteidigt haben, und dieser kleine Mann wird wohl weiterhin auf der Strasse stehen. Darum ist es mir mit dem Beitrag eigentlich gegangen und darin würde ich schlussendlich vielleicht doch eine Möglichkeit sehen, wie Österreich in dieser Situation für mich einen Tick "besser" wäre: wenn nicht das Kollektiv (weder das grölende, noch das sich empörende), sondern das Individuum mehr im Vordergrund stünde.

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